AUF DER SUCHE NACH DEM VERLORENEN GRAL

Ich stand im Surulere-Nationalstadion in Lagos, Nigeria inmitten einer tobenden, tanzenden, singenden Menschenmenge, die auf den Beginn des Spiels zwischen Nigeria und Tunesien in der Afrikameisterschaft wartete. Plötzlich sprang ein kleines, weißbemaltes Männchen zwischen die jungen Männer. Alle machten ehrfürchtig Platz. Der kleine Zauberer trug die Holzstatue von Ossa, der Schutzgöttin von Lagos. Als ich ihn mit dieser Göttinnenstatue tanzen und singen sah, überlegte ich: wo waren die Männer, als die Frauen sich auf die Suche nach einer neuen Identität machten, als sie nachts Rituale feierten und ihre Magie entdeckten? Sie waren auf dem Fußballplatz oder saßen mit einer Dose Bier vor dem Fernseher, um sich das Spiel anzuschauen - tausende von Schiedsrichtern, von Verteidigern, von Mittelstürmern, von Liberos, von Trainern, Experten. Fußball - die Magie der Männer.

Fussball zieht eine tiefe Spur durch mein Leben: mein Grossvater war Schiedsrichter, meine Grossmutter Fan von 1860. Mit ihr ging ich zu den ersten Fussballspielen meines Lebens und von ihr erfuhr ich, was eine Abseitsfalle ist und wann ein Einwurf oder eine Ecke gegeben werden muss. Im empfindlichen Alter von 14 Jahren pfiffen die Männer des Kaffs in dem ich lebte, hinter mir her und riefen: Sech-zig, sech-zig. Keine Ahnung, ob sie damit 1860 München meinten oder einfach nur blöd waren. Aber Petar Radenkovic, der Tormann, war tatsächlich so etwas wie ein Idol, wie er da vor dem Tor herumkasperte, "Bin i Radi bin i König!" sang und Fussball nicht so ernst nahm!

1966 in einem Wohnwagen in Wales wurde ich bei der Übertragung des Weltmeisterschaftsspiels zwischen England und Deutschland zu Beginn der Verlängerung fast gelyncht. In der allerletzten Minute hatte Deutschland das Ausgleichstor geschossen. Erst als England das Tor schoss, das eigentlich nicht drin war, entspannte sich die Lage für mich. Auf meiner ersten Afrikareise entstand ein Heimatgefühl, als ich kleine Jungs im Busch mit einer Plastiktüte voll Sand fussballspielen sah. Sogar in der Zeit des politischen Kampfes gegen die reaktionären Überbleibsel der Nazizeit und gegen den Vietnamkrieg zogen wir anarchistischen Linksradikalen vor dem Weltmeisterschaftsendspiel zwischen Deutschland und Holland durch München und riefen ausnahmsweise mal nicht "Ho-Tschi-Min, Tupamaros, Vietcong", sondern "Holland holt den Käsecup".

Die Geburt meiner Tochter Walli begann mit einem Fruchtblasensprung beim ersten Tor von Gerd Müller gegen Magdeburg am 6. November 1974. Wallis Papa Jimi schaffte es, mich aus meiner Traumzeit von meinen Tarotkarten , meiner Schreibmaschine sonntagnachmittags manchmal zum Fussballfeld zu locken, wo er mit Absolventen des ersten Jahrgangs der Hochschule für Film und Fernsehen, zum Beispiel mit Wim Wenders, kickte. Meine Aktivitäten in der Frauenbewegung hinderten mich nicht daran, die Eleganz des Spiels von Franz Beckenbauer, dem "Gockel von Giesing" (Giesing ist ein arme-Leute-Viertel von München) zu bewundern und mir Pelés Spiele im Fernsehen anzuschauen. Wenn ich das Wort "Bundestrainer" höre, ergänzt mein Hirn bis heute "Sepp Herberger". Der Einstieg der Frauen in die Fussballberichterstattung ging erstmal in die Hosen. Carmen Thomas sagte "Schalke 05" statt "04" und erntete damit den Spott aller deutschen Männer. Das erinnerte mich an meinen missglückten Versuch, als evangelisches Kind beichten zu gehen ohne den Beichtspiegel zu kennen. In einen Kult kann man sich eben nicht so einfach einschleichen.

Auf meiner zweiten Reise nach Tibet, hörte ich neben den Mönchsgesängen aus dem Jokang vertrautes Geschrei aus einem Fernseher: ein Spiel der Fussballweltmeisterschaft wurde übertragen. Und ein Junge, der in seinem Leben sicher noch nichts anderes als Gerstenmehl und Yakfleisch gegessen hat, sagte andächtig: "Beckenbauer", als er deutsche Touristen sah. Beckenbauer ist nicht Kaiser, Pelé ist nicht Zauberer, beide sind Götter einer Religion, die hauptsächlich von Männern ausgeübt wird.

Bei einem Spiel zwischen Bayern München und Borussia Dortmund in der Südkurve des Münchner Stadions Anfang der Achtziger Jahre hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass Fussball etwas mit Magie zu tun haben könnte. Millionen Menschen lassen sich jedes Wochenende weltweit mobilisieren, keine Kirche, keine Gewerkschaft kriegt das hin. Fussballfans reisen tausende von Kilometern, stecken im Stau, brüllen sich heiser - nicht für ihre Interessen, für ihren Arbeitsplatz, für eine giftfreie Umwelt, sondern für "ihre" Mannschaft.

Elf Freunde sollt ihr sein! Warum elf? Elf ist in der Zahlenmythologie, die ja nur von 1 bis 9 geht, eine ganz besondere, eine magische Zahl. Dass zwei Mannschaften 22 Spieler und nicht 23 ergeben, erklärt, warum Fussball in den "Illuminaten", dem Kultbuch aller Hippies und Verschwörungstheoretiker, nicht vorkommt, in der die 23 die magische Zahl ist, denn mit dem Schiedsrichter sind zwar 23 Männer auf dem Platz, aber was ist mit den Linienrichtern?

Bleiben wir bei der Magie: Tor! Der Torhüter ist die zentrale Figur des Kults, obwohl er weniger zu tun hat als alle anderen Spieler und schon mal vor Langeweile wie der nigerianische Tormann Shorunmo den Ball küsst oder wie der legendeäre Sepp Maier Purzelbäume macht. Tor- Hüter. Schöner konnte es auch Ursula LeGuin in ihrer Zaubertrilogie "Magier der Erdsee" nicht ausdrücken. Es braucht eine Initiation, um den Torhüter zu überwinden. Nicht deinen Namen, nicht ein Codewort sagst du ihm, sondern wie im Märchen schaust du nicht rechts und links, bleibst am Ball, weichst damit jeder Abseitsfalle, jedem Fehlpass aus und kümmerst dich nicht um die Monster mit glühenden Augen, mit den groben Händen, den harten Kniescheiben, die dich am Durchtreten in die höheren Sphären (Millionen beim nächsten Transfer! Ruhm! Medienaufmerksamkeit!) hindern könnten. Antäuschen (alter magischer Trick) - und durch.

Interviews mit Fussballern gestalten sich oft dürr. "Es hat einfach alles gepasst, wir haben gut gespielt..." Kann ein Blitz erklären, wie ein Blitz funktioniert? Interessanterweise spielen auch Helferwesen und Tierverbündete eine grosse Rolle. Löwen, Leoparden, Bären, Eagles, Grashoppers – viele Vereine verstärken ihre Kraft im Spiel mit mächtigen, listigen, räuberischen Symboltieren, die den Sieg bringen sollen. Auch die für magische Kulte wichtigen Farben und Zahlen spielen im Fussball eine grosse Rolle. Manche Spieler klammern sich an die Bedeutung der Zahl auf ihrem Trikot wie SchamanInnen an Bärenzähne und Medizinbeutel. Die Farben eines Vereins haben Fetischcharakter, wie auch die Andenken und Accessoires, die ihre Anhänger sich auf den Körper oder ins Auto hängen. So mancher kleine Kleiderbügel mit dem Dress des Lieblingsvereins hat dem autofahrenden Kultanhänger schon die klare Sicht auf den Verkehr geraubt.

Der Schiedsrichter ist unfehlbar wie der Papst und sorgt als Zeremonienmeister dafür, dass die rituellen Regeln eingehalten werden – und alle Spieler halten sich daran, egal ob sie auf einer Bauernwiese oder in einem Nationalstadion spielen.

Die akkustische Untermalung eines Spiels könnte ein Haufen Zauberer in einem Ritual nicht eindrucksvoller gestalten, wenn auch die Lieder in deutschen Stadien alle wie "Wir lagen vor Madagaskar" klingen. Und diese La-Ola-Choreographie, die tausende von Menschen einstudieren und abziehen, ohne dafür bezahlt zu werden! Überhaupt das Geld: wie alle Religionen fordert auch der Fussballverein von seinen Anbetern regelmässige Abgaben, sei es durch Mitgliedsbeiträge, durch Eintrittskarten oder Devotionalien. Die Gläubigen finanzieren den Kult. Während die Gurus, die Kultstars schon mal die Nase rümpfen, wenn sie statt in einer Villa mit Pool in einem Einfamilienhaus durchhalten müssen, wissen viele der wahren Fans nicht, was sie nach dem Spiel zu beissen haben, so teuer ist die Hingabe an den Kult. Aber Essen hat sowieso keine Priorität, und hier kommen wir zur archaischen Gewalt des Kults – Saufen, Brüllen, Prügeln ist angesagt. Spirit for the Spirits, Rauchopfer, Menschenopfer – wie in frühgeschichtlichen Zeiten.

Einer der wirkungsvollsten Fetische, die ich je besass, war Anfang dieses Jahres der Akkreditierungsausweis für den African Cup of Nations in Nigeria. Er öffnete mir alle Türen, die Ehrentribüne im Stadion, den Zugang zum Computerzentrum mit Internetanschluss und verschaffte mir eine Einladung zur Cocktailparty der Gangsteraristokratie von Lagos – spirit for the spirits. Nur meine Hühnerkralle ist mächtiger!

Im Beach Plaza, einer windschiefen Strandkneipe von Lagos, wo ich unter fortwährendem Getrommel, Geschrei und Flicflacs der etwa sechzig Zuschauer das Spiel zwischen Nigeria und Senegal im uralten Fernseher anschaute, fiel mir auf, was an der Fussballmagie irgendwie schief ist. Die Sieger bekommen den Kelch, finden den Gral, aber sie fangen immer wieder von vorn an. Virtuosität und demütigende Niederlagen wiederholen sich wie die Musik einer Platte mit Sprung. Es gibt keine Erlösung, keine Erleuchtung, nur immer neue Einwürfe, Ecken, Freistösse, gelbe Karten, rote Karten, immer wieder Anstrengung, Schweiss, Verletzungen, Siege, Demütigung. Fussball ist wie der Fluch des Sisyphos. Die Mühe ist nie zu Ende. Die Suche bleibt. Der Ball ist rund, dahinter ist – nichts.






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